Im physischen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten ist Bindung kaum begreifbar. Niemand hat sich ein Band um die Hüfte gebunden, das zu einem anderen Menschen führt, die oder der es ebenso um die Hüfte trägt. Dennoch bin ich in meinem Leben Bindungen eingegangen. Ist Bindung nur ein Gedanke? Ist der Ehering allein gemeinsamer Schmuck? Die Robe einer Glaubensgemeinschaft nur Zierde? Ist es möglich, ungebunden durch das Leben zu gehen?
Zu meinen Kindern habe ich eine tiefe Bindung. Ein Leben lang werde ich der Vater, die Mutter dieser Menschen sein und sie mein Sohn und meine Tochter. Es berührt mich, wenn ich ihnen gegenüberstehe, und wenn auch nur im Geiste, diese Worte spreche: «Ich bin dein Vater», «Ich bin deine Mutter». Diese Bindung ist wahr, ich spüre sie und mein Kind spürt sie ebenso. Wer will einen Zweifel daran erheben?
Eine Bindung scheint etwas Lebendiges und in ihrer Stärke veränderlich zu sein. Ein Vater oder eine Mutter mit vielen Kindern kann zu einem Kind mehr Bindung haben als zu einem anderen. Zu einer Tante kann die Bindung stärker sein als zu manchem anderen Verwandten.
Bindungen scheinen auf verschiedenen Ebenen möglich zu sein: Mit diesem Onkel bin ich im Herzen verbunden, mit meinem Vater im Geiste, mit diesem Freund verbindet mich der Sport, mit diesen Menschen die Musik. Im Energetischen scheinen sich Fäden gesponnen zu haben, die äußere Umstände und Zeiträume durchdauern.
Ich kann Bindungen eingehen. Vor einem Jahr war ich dir in diesem Leben noch nicht begegnet. Du hattest dein Leben und Umfeld und ich meines. Heute sind wir zusammen und haben uns in so vielem verbunden. Du bist meine Gefährtin und ich dein Gefährte. Es ist offensichtlich, spürbar, auch für Außenstehende. Wer will bestreiten, dass es Bindung wahr und wirklich gibt?
Wenn ich von Jetzt auf Gleich gehen würde, all meine Sachen nehmen würde, einen eigenen Raum in einiger Entfernung beziehen würde, allen Menschen um mich sagen würde: «Ich lebe allein», «Ich habe keine Gefährtin», so würde es dich verletzten und mich ebendrein, denn es ist nicht die Wahrheit, denn ich wäre weiterhin mit dir verbunden. Die Beziehung, die ich mit dir einging, ist nicht gelöst; Raum allein löst nicht die inneren Fäden einer Bindung.
Denn ich habe dir mein Wort gegeben: «Ich bin dein Freund», «Ich gehe mit dir», «Ich bin mit dir zusammen». Solange das Wort nicht gelöst ist, besteht die Bindung. Manche Menschen geben viele Worte an viele Menschen und leben so über viele Fäden verbunden.
Jeder Vertrag, jede Unterschrift, jeder Eid, Schwur, jede Vereinbarung, Abmachung, jeder gemeinsame Plan ist eine Bindung, solange diese nicht wieder im Geist und Herzen gelöst ist.
Zum Lösen braucht es beide. Wenn ich mir von dir Geld geliehen habe, kann ich nicht einfach denken: «Ich habe keine Schulden» und bin nun von dir gelöst. Die Schuld besteht und löst sich erst mit der Rückgabe und des gegenseitigen Einverständnisses der Tilgung. Auf der anderen Seite kann ich jemand so viel Schuld zuweisen, wie ich möchte: all dieses Denken erzeugt keine wirkliche Bindung.
Eine wirkliche Bindung wirkt. Wenn der Mensch, mit dem ich eine Bindung habe, in den Raum tritt, wirkt er oder sie auf mich. Ich kann diese Wirkung nicht unterbinden. Ich kann höchstens versuchen, sie ins Unbewusste zu drücken.
Ein Mensch ist frei, wenn er oder sie die ungeklärten Bindungen gelöst hat und mit den bestehenden im liebevollen Austausch lebt. Eine Bindung als solche ist weder gut noch schlecht. Auch die Anzahl der Bindungen ist von Glück und Liebe unabhängig. Liebevolle Bindungen stärken, die ungeklärten schwächen.
Prüfe es für dich selbst, indem du die folgenden Worte in dir sprichst und dabei spürst, welche Wirkung sie auf dich haben: «Ich bin gebunden.»
PS: Einmal traf ich eine Polin, die mir sagte, dass sie mit ihrem 18-jährigen Sohn ein Ritual durchführte, in dem sie ihm sagte, dass sie nun nicht mehr seine Mutter sei, um ihn in allein sein Leben zu entlassen. Der Sohn ist heute verheiratet, Professor und erfolgreich.
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veröffentlicht am 2.5.2017, letzte Änderung am 2.5.2017 um 13:00 Uhr
Geschichten, Texte, Übungen und Meditationen zum bewussten Erleben
Christoph Steinbach und Jaipur
412 Seiten, gebunden, mit 22 Zeichnungen des Verfassers
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